Titel
Öl und Souveränität. Petroknowledge und Energiepolitik in den USA und Westeuropa in den 1970er Jahren


Autor(en)
Graf, Rüdiger
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 103
Erschienen
Berlin 2014: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
XII, 442 S.
Preis
€ 54,95
URL
von
Monika Gisler, ETH Zürich

Die Erdölpreiskrise von 1973/74 war trotz ihrer geopolitischen Dimension auch ein nationales Ereignis, zumindest, wenn man die Reaktionen der westlichen Staaten in den Blick nimmt.1 Für die westliche Welt hat dies Rüdiger Graf jüngst im Rahmen seiner Habilitationsschrift unternommen. Der Autor konzentriert sich auf Deutschland und die USA – mit Seitenblicken auf Frankreich und Grossbritannien – und stellt das Ereignis in den Kontext souveränitätspolitischen Handelns dieser Staaten: Die nationale Souveränität erdölabhängiger Staaten des Nordens und des Westens – so Grafs These – wurde im Oktober 1973 mit der Erdölpreissteigerung durch die OPEC (Organisation erdölexportierender Länder) und der Embargodrohung durch die OAPEC (Organisation der arabischen erdölexportierender Länder) erheblich herausgefordert. Die westliche Welt, die ihre Wohlstandssteigerung in den 1950er und 1960er Jahren in erster Linie auf den unbeschränkten Zugriff auf die Erdölreserven des Mittleren Ostens und Nordafrikas abstellte, sah sich durch den Preisanstieg und die Kürzungsandrohung in ihrer Souveränität massgeblich bedroht und reagierte entsprechend unvermittelt. Souveränität versteht Graf dabei nicht als etwas Statisches, das man hat oder nicht hat, sondern als politischen Anspruch, der erhoben, anerkannt, in Frage gestellt oder negiert werden kann. Souverän ist also, wer als souverän wahrgenommen wird, die Herstellung von Souveränität ist entsprechend mit Demonstration nach innen und aussen verbunden.

Die Vorgänge im Herbst 1973 haben seitens des Westens Überraschung und Unsicherheit hervorgerufen, man sprach von Erpressung und vom Einsatz einer «Erdölwaffe». Graf hat bereits in einem früheren Aufsatz2 darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Überraschungseffekt mitnichten so gross und die ergriffenen Massnahmen so improvisiert waren, wie gerne kolportiert wird. Denn die Energiekrise brach keineswegs plötzlich und unmittelbar über die westliche Welt hinein: Anfang der 1970er Jahre bereits hatten die in der OPEC versammelten erdölfördernden Länder eigene Souveränitätsansprüche bezüglich der natürlichen Ressourcen geltend gemacht und versuchten nun zunehmend, diese politisch durchzusetzen. Als eine Massnahme dazu diente ihnen die langsame Steigerung des Erdölpreises, die im Herbst 1973 forciert wurde. Dieser Anstieg war beim rasant zunehmenden Erdölkonsum der westlichen Staaten nicht zu unterschätzen, machte er doch, wenn auch nicht zum ersten Mal, deutlich, wie stark die Auslandabhängigkeit der Nachfrageländer war.

Die eigentliche Überraschung lag im Ölembargo, das die OAPEC als Reaktion auf den Jom-Kippur-Krieg von Oktober 1973 aussprach. Die angedrohte Drosselung der Fördermenge wurde dabei effektiv einzig gegenüber den USA und der Niederlande durchgesetzt, die anderen westlichen Staaten waren lediglich diskursiv bedroht. Nichtsdestotrotz resultierte diese wahrgenommene Bedrohung in der raschen Umsetzung von zuvor bereits anvisierten energiepolitischen nationalen und internationalen Strategien und Massnahmen zur Wiederherstellung von Energiesicherheit und damit zur Gewährleistung politischer Handlungsfähigkeit. Deutschland etwa trieb nach 1973 eine Energiepolitik voran, die bereits 1970 in die Wege geleitet worden war. Denn noch ein zweites Ereignis hatte Anfang der 1970er Jahre eine Wende in der geopolitischen Erdöl-Konstellation eingeleitet: Waren die USA bis Ende der 1960er Jahre ein Erdöl-Exportland und konnten sich als Puffer bei der rasch steigenden Nachfrage andienen, so drohten sie Diskussionen veranlassten Deutschland also bereits vor 1973, ein Energieprogramm zu entwickeln, das dann während der Krise rasch implementiert werden konnte und anschliessend Bezugspunkt energiepolitischer Debatten darstellen würde. Dennoch sah sich auch Deutschland durch die angedrohten Produktionsbeschränkungen in seiner Souveränität herausgefordert, Energiesicherheit und Wirtschaftswachstum schienen gefährdet. Wichtigste Handlungen waren folglich die Umstrukturierung der verschiedenen Energiesektoren, das Ergreifen von Massnahmen zur Reduktion der Abhängigkeit von Importen, die Organisation energiepolitscher Entscheidungsstrukturen, ein umfassender Ausbau des Energiewissens (in der Terminologie Grafs die Erweiterung von Petroknowledge) und dessen Institutionalisierung. Darüber hinaus wurde eine gemeinsame Energiepolitik im Rahmen europäischer und internationaler Organisationen und Gremien eingeleitet. Energie wurde damit, so Graf, erstmals zum Politikfeld.

Auch die USA konnten nicht unmittelbar durch das Embargo der OAPEC überrascht worden sein. Zwar traf es die USA als – neben der Niederlande – deklarierten «Feind» der OAPEC effektiv, aufgrund der oben erwähnten Neuausrichtung der Energieversorgungssicherheit zu Beginn der 1970er Jahre waren Regierungsinterventionen im Energiesektor jedoch bereits an der Tagesordnung. Die Erdölpreiskrise beschleunigte diese Strategien dann aber zweifelsohne. Im November 1973 wurde der Emergency Petroleum Allocation Act ausgearbeitet, der eine zunehmende Institutionalisierung des Themas Energie erlaubte – und dem damaligen Präsidenten Richard Nixon zumindest kurzfristig ein neues Profilierungsfeld eröffnete und so von den Verstrickungen rund um Watergate ablenkte. Um seine Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen, liess Nixon ein umfassendes Programm, das Project Independence, ausarbeiten. Hierin verfolgte er einen genuin anderen Kurs als Deutschland, der – wie der Name schon sagt – stark autarkiepolitisch ausgerichtet war: Ausbau und Zentralisierung energiepolitischer Kompetenzen innerhalb der Administration, Ausbau regierungsamtlicher Expertise als Basis nationaler Energiepolitik (Petroknowledge), eine verstärkte Kommunikation mit der amerikanischen Bevölkerung (Stichwort Energiesparen) sowie – nun aussenpolitisch orientiert – die Aufnahme diplomatischer Verhandlungen mit den Erdölförder- und verbraucherländern, eine Strategie notabene, die auch Grossbritannien und Frankreich verfolgten. Die Bilanz des Programms zeigte sich allerdings durchwachsen: Die Handlungsfähigkeit der Exekutive konnte zwar gestärkt werden, jedoch nicht in dem Masse, wie sich dies Nixon (bzw. Kissinger) ursprünglich vorgestellt hatte(n). Sparappelle blieben meist wirkungslos, lieber setzte man auf Forschung und Entwicklung (die National Science Foundation lancierte ein millionenschweres Energieförderprogramm), und der an die Hand genommene Ausbau einheimischer Energiequellen resultierte vorerst nicht in der erneuten energiepolitischen Unabhängigkeit der USA (dies könnte sich in den kommenden Jahren ändern).

Rüdiger Graf gelingt mit seiner Schrift ein neuer, die traditionelle Historiografie zum Thema korrigierender Blick auf die (Politik-)Geschichte der Erdölpreiskrise von 1973/74. Damit erhellt er nicht nur die Energiegeschichtsschreibung, sondern vermag auch der Politikgeschichte neue Impulse zu geben. Und nicht zuletzt stellt er mit dem Verweis auf die Kontinuität in der Energiepolitik die gängige Epochensetzung, die die 1970er Jahre als Umbruchsphase deklariert, bereits wieder in Frage.

1 Siehe etwa Elisabetta Bini, Giuliano Garavini und Federico Romero, Oil shock. The 1973 crisis and its economic legacy, London, New York 2016, sowie Historical Social Research / Historische Sozialforschung (HSR) 39/4 (2014), Special Issue: The Energy Crises of the 1970s. Anticipations and Reactions in the Industrialized World.
2 Frank Bösch und Rüdiger Graf, Reacting to Anticipations. Energy Crises and Energy Policy in the 1970s. An Introduction, in: Historical Social Research / Historische Sozialforschung (HSR) 39/4 (2014), Special Issue: The Energy Crises of the 1970s. Anticipations and Reactions in the Industrialized World, S. 7–21.

Zitierweise:
Monika Gisler: Rezension zu: Rüdiger Graf, Öl und Souveränität. Petroknowledge und Energiepolitik in den USA und Westeuropa in den 1970er Jahren, Berlin, München, Boston: Walter De Gruyter, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 525-525.